Von Bundesjugendspielen und anderen „Kleinigkeiten“
Zunächst einmal möchte ich
klarstellen, dass ich absolut nichts gegen @mama-arbeitet habe. Und
natürlich muss mich niemand nach meiner Meinung fragen bevor er/sie
eine Petition startet. Allerdings muss man dann auch damit klar
kommen, wenn ein Anliegen von einigen weder geteilt, noch für
sinnvoll oder gar zielführend erachtet wird. Und bei Frau Finke bin
ich mir eigentlich sicher, dass sie mit Kontroverse umgehen kann,
solang man auf Beleidigungen oder schlimmere Entgleisungen
verzichtet.
Zum Thema Bundesjugendspiele
Ja bitte, schafft sie doch ab! Erspart
den leichtathletisch Minderbegabten die jährliche Schmach und
verderbt allen anderen den Spaß. Wenn es Euch glücklich macht.
Nutzen wird es jedoch niemandem. Denn die dicke Tina wird weiterhin
beim Zirkeltraining ausgelacht werden. Torben steht immer noch mit
roten Kopf und kurz vorm heulen als letzter in der Turnhalle, wenn
Mannschaften gewählt werden und dass Christina keinen Ball fangen
kann, wird auch in Zukunft ihr Selbstbewusstsein wenig stärken.
Genauso geht es übrigens auch
regelmäßig Tim dem „Mathe Looser“, denn auch wenn er nicht
öffentlich eine Teilnahme Urkunde für den Mathematikunterricht
überreicht bekommt, so ist überraschenderweise dennoch jedem klar,
wer sich erneut die einzige 5, erkennbar am Klassenspiegel, abholen
darf. Und wenn Hanna an die bevorstehende Theateraufführung denkt,
wird ihr jetzt schon schlecht, weil sie ein weiteres mal den einzigen
Satz, den sie mit Rücksichtnahme auf ihr nicht vorhandenes Talent zu
sagen hat, vor Aufregung und Scham versemmeln wird. Alles anscheinend
traumatische Erlebnisse, die es unbedingt zu verhindern gilt, oder
etwa nicht?
Und jetzt sage ich Euch mal, warum es
in meinen Augen die falscheste aller Lösungen ist, den Kinder diese
Erfahrungen ersparen zu wollen.
Ich habe nämlich selbst einen aus dem
„Team Teilnahme Urkunde“ hier zur Hause. Jemand, der mir am
letzten Schultag Tränen überströmt und völlig am Boden zerstört
das beste Zeugnis der Klasse in die Hand drückt, mit dem Verweis auf
die grausam peinliche Urkunde, die kurz davor verliehen wurde. Ich
muss ganz ehrlich sagen, dass mir dabei eine Menge durch den Kopf
ging, allerdings ganz sicher nicht, unmittelbar eine Initiative ins
Lebens zu rufen um diese unsäglichen Bundesjugendspiele endlich
abzuschaffen.
Klar ist es immer scheiße, wenn der
eigene Nachwuchs heult und ganz offensichtlich tief verletzt ist. So
absurd sich das auch für einen Erwachsenen darstellt, der gerade vor
Stolz platzen möchte ob dieses wahsinns Zeugnisses. Aber dafür sind
wir Eltern doch da. Gefühle ernst nehmen? Klar! Ende der Welt? Nein,
sicher nicht! Das dem Kind zu vermitteln, empfinde ich als meine
Aufgabe in dieser Situation. „Ist ok, wenn Du traurig bist, aber
hey! Guck mal, was du alles gut kannst. Du bist toll, auch ganz ohne
diesen Leichtathletik Kram. Oder wolltest Du etwa professioneller
Ballweitwerfer werden? Man kann halt nicht immer ganz vorne mit dabei
sein. Scheiß drauf!“
Natürlich funktioniert das nicht auf
Knopfdruck, zack Kind glücklich. Aber nach nun mittlerweile 5
Bundesjugendspielen kann ich Euch verraten, dass hier niemand mehr
deswegen heult. Dafür sitze ich dann wahrscheinlich demnächst hier
und versuche zu erklären, warum die Tatsache, dass Melina jetzt doch
mit dem Lars geht, auch scheiße aber immer noch nicht das Ende der
Welt ist.
Ich möchte, dass unsere Kinder lernen
mit Niederlagen um zu gehen und dass sie lernen ihre Fähigkeiten
realistisch einzuschätzen. Wie sonst sollen sie ihren Weg finden?
Ich würde mir wünschen, dass wenn unsere Tochter (wie ich damals)
mit „Na, hat das Bild etwa deine 4 jährige Schwester
gemalt?“gehänselt wird, mit „Ne, dann sähe das entschieden
besser aus.“ antwortet und dabei lachen kann. Das erreiche ich aber
ganz sicher nicht, indem ich eine Initiative starte, dass Kinder ab
sofort nur noch in Einzelkabinen Kunstunterricht erhalten um dieser
grauenhaften Diskriminierung endlich ein Ende zu setzten. Das dazu.
... und andere Kleinigkeiten
Nun aber zu dem eigentlichen Grund,
warum ich derart geladen bin, dass ich entgegen meiner Pläne erst
mal lange nix zu bloggen, schon wieder hier sitze. Die
Bundesjugendspiele scheinen, wie @mama-arbeitet bereits erkannt hat,
ein sehr emotionales Thema zu sein. Ich werde das kaum leugnen
können, wo ich mich ja gerade selbst dazu berufen fühlte, auch
meinen Senf beizutragen. Also wird fleißig diskutiert, getweetet,
gepostet, geteilt was das Zeug hält. Alles nicht weiter
verwunderlich. Parallel zu diesem offensichtlich gesellschaftlich
relevanten Thema, und nun kommen wir zum Punkt „andere
Kleinigkeiten“, passiert aber noch etwas anderes, das ich bis dato
auch für „nicht ganz so unerheblich“ gehalten hatte.
In Berlin gehen, erstmals in der
deutschen Streikgeschichte, Pflegerinnen und Pfleger FÜR EUCH auf
die Straße und streiken. Nicht für mehr Geld. Nicht für eine 35
Stunden Woche oder ähnlichen Luxus. Nein, sie streiken für mehr
Kollegen, damit IHR also die potentiellen Patienten überhaupt
anständig versorgt werden könnt. Wisst ihr, wir, also alle
Pflegenden, wir haben im schlimmsten Fall eine Alternative. Nämlich
die Kündigung. Wenn nichts mehr geht, dann können wir aus dem
Krankenhaus, Seniorenheim, ambulanten Pflegedienst etc einfach raus
marschieren und der Katastrophe somit entfliehen. Was übrigens
massenweise Kolleginnen und Kollegen bereits getan haben. Ihr
Patienten, ihr könnt das nicht. Weshalb wir bislang auf Streik
verzichtet haben. Für mehr Geld die Patienten/Bewohner im Stich
lassen? Wo wir doch eh schon dauerhaft unterbesetzt sind? Nein, da
haben die meisten meiner Kollegen Skrupel. Schließlich kann die
bettlägerige alte Dame am wenigsten dafür, dass wir immer mehr
Stellen gestrichen bekommen und somit hoffnungslos überlastet sind.
Die zahlreichen (wie ich finde bescheuerten) Tweets auf Twitter haben
ja auch gezeigt, dass Ihr das super von uns fandet. „Die doofe GDL
streikt, danke an die Pflegekräfte, dass ihr das nicht tut!“
Dummerweise hat dieses fürsorgliche Nicht-streiken mittlerweile dazu
geführt, dass nicht nur wir uns kaputt schuften, sondern Ihr
trotzdem unterversorgt seid. Und wenn dann erst mal jemand verblutet
ist, weil die Nachtschwester allein mit 40 Patienten überhaupt keine
Chance hatte, das rechtzeitig zu bemerken, dann, ja dann steht sogar
das Pflegepersonal auf. Erst wurde für mehr Personal gebettelt, dann
reihenweise Überlastungsanzeigen geschrieben und jetzt ist es in
Berlin in der Charite endlich soweit, dass zum letzten Mittel vor der
Kündigung gegriffen wird, nämlich zum Streik. Für EURE Gesundheit!
Damit DU nicht an einem banalen Routineeingriff versterben musst,
bloß weil niemand regelmäßig Deinen Zustand kontrollieren konnte.
Und in ganz Deutschland beobachten Pflegekräfte diese Entwicklung
gespannt und hoffen darauf, dass jetzt endlich begriffen wird, wie
nötig Veränderungen sind und Bewegung in die Sache kommt. Druck auf
die Charite, Druck auf die Regierung. Berichte über die Pflege.
Empörung über derart katastrophale Zustände in deutschen
Einrichtungen. Sie sitzen vorm Fernseher oder schauen im Internet
nach wann endlich die „gesunde“ Öffentlichkeit von all dem
erfährt. Und was kommt? NICHTS!
Wenige Sekunden in der Tagesschau
gestern und 2 Artikel im Tagesspiegel. Darüber hinaus? NICHTS!
Dafür, (und nein, da kann Frau Finke
überhaupt nichts für und das ist auch nicht im geringsten ihr
Problem) bekomme ich das Thema Bundesjugendspiele von allen Seiten in
meine TL. Angefangen mit @sternde und als es sogar die @tagesschau
raus gehauen hat, ist mir endgültig der Kragen geplatzt. Jetzt ist
der Punkt erreicht, an dem ich anfange, das persönlich zu nehmen.
Die Pflege ist am Boden. Sie kann nicht mehr. Aber anstatt
wegzulaufen, stellen sich die Mitarbeiter der Charite auf die Straße
und schreien nach Hilfe. Um EUCH helfen zu können. Damit EUCH nichts
schlimmeres passiert als ein Krankenhausaufenthalt. Und was macht
ihr? Ihr diskutiert über die Bundesjugendspiele. Danke für nichts!
Dann habt ihr es auch nicht besser verdient. Ich bin raus.
Oder liebe Fans der
Bundesjugenspieldebatte, Ihr setzt Euch jetzt auch für mal uns ein.
Wimmernde Kinder, die in der Ecke sitzen, weil sie nicht die Leistung
erbringen können, die verlangt wird, tun Euch leid? Was ist dann mit
uns Pflegekräften? Wir bekommen jeden Tag eine
beschissene Teilnahme Urkunde. „Notwendige Leistungen konnten
leider nicht erbracht werden, weil ihr einfach nicht genug seid. Aber
hey, immerhin ward ihr da!“
Wie viele Pflegekräfte bleiben da wohl
auf der Strecke? Ist es womöglich auch ein traumatisches Ereignis,
sich für gesundheitliche Schäden oder gar den Tod eines Patienten
verantwortlich zu fühlen? Ok, eine Petition zur Abschaffung der
Pflege ist hier wohl leider weder zielführend noch möglich. Aber wie wäre es zum Beispiel mit
einer Petition für die Einführung eines bundesweiten
Pflegeschlüssels um diesem Leid auf beiden Seiten des Pflegebettes endlich ein Ende zu setzten?
Eure @emergencymum