Mittwoch, 12. Oktober 2016

Offener Brief an Die Welt

Offener Brief an "Die Welt"


Soeben las ich diesen Artikel der Welt.

Und allein die ersten beiden Sätze beförderten meinen Blutdruck in pathologische Höhen.
Dort heißt es nämlich: „Das Durchschnittseinkommen Hochbetagter (in NRW) reicht laut einer Studie oft nicht aus, um ein Altenheim aus eigener Tasche zu bezahlen. DAS LIEGT AN vergleichsweise FAIREN LÖHNEN FÜR PFLEGEKRÄFTE.“

Zwei Skandale in zwei Sätzen:

  1. Die Rente vieler Pflegebedürftiger geht offenbar zu 100% für eine stationäre Unterbringung drauf, so dass Sozialämter noch zusätzlich einspringen müssen, sobald sämtliche Vermögenswerte verfrühstückt wurden.

  1. Schuld daran sind natürlich die fiesen Pflegekräfte, die so etwas wie eine „faire Entlohnung"  fordern. Wo gibt es denn sowas?

Ach ja, in NRW gibt es so etwas. Da werden angeblich in Borken Pflegekräften satte 3175 Euro brutto durchschnittlich hinter her geworfen. Pfui! Wie unverschämt ist das denn? Rechnet man die Zulangen für Spät- und Nachtdienste sowie für Sonn- und Feiertagsarbeit heraus, bliebe da ja ein sagenhaftes Grundgehalt von...
Ach lassen wir das. Es ist einfach unverschämt und gemein den zu Pflegenden gegenüber.
Die pflegerischen Fachkräfte im Osten Deutschlands machen es schließlich vor. In Leipzig zum Beispiel. Da buckeln die Kollegen auch rund um die Uhr und sind dankbar für ganz doll viel politisch-verbale Anerkennung, zweimal im Monat ein „Also deinen Job könnte ich ja nicht.“ des Nachbarn und ein Durchschnittseinkommen von 1714 Euro brutto. Na geht doch. Und schon kostet der Heimplatz wenig genug, dass Tante Hildegards Witwenrente ausreicht und weder ihre Angehörigen noch das Sozialamt mit irgendwelchen zusätzlichen Kosten belästigt werden.

Und jetzt mal im Ernst:

Was stimmt mit Euch nicht?

Wir Pflegekräfte sind doch kein beschissener Kostenfaktor. Wir sind Menschen. Menschen, die es zu ihrem Beruf gemacht haben, professionell Alte und Kranke zu pflegen. Menschen, die mit diesem Beruf ihr Leben finanzieren müssen. Vielleicht auch eine Familie ernähren. Menschen, die womöglich mal in Elternzeit gehen wollen (Elterngeld!). Menschen, die ein erhöhtes Risiko haben, selber krank zu werden (Krankengeld!). Menschen, die sofern sie sich nicht vorher tot schuften, auch nach ihrem Berufsleben über die Runden kommen wollen (Rente!).

Lieber Welt Schreiberling, haben Sie eigentlich daran gedacht, dass für all diese Dinge, also von Elterngeld bis Rente, die Zulangen für Nacht- Feiertagsarbeit etc. oder wie wir es nennen „das Schmerzensgeld für den Verzicht auf ein Sozialleben“ völlig irrelevant sind? Es zählt einzig das Grundgehalt. Und das muss man jetzt nicht mal detailliert ausrechnen oder Borken mit Leipzig vergleichen, um auf den ersten Blick zu erkennen „Oh, das könnte knapp werden.“
Natürlich kann man sich darüber freuen, dass Sozialämter in Ostdeutschland seltener einen Heimplatz bezuschussen müssen. Blöd nur, wenn dafür die Familien der Pflegekräfte auf sogenannte „Aufstockung“ angewiesen sind oder ehemalige Pflegende Grundsicherung benötigen, nicht wahr?

Wenn Sie den Finger in die Wunde legen wollen, dann fragen Sie doch mal, wie es dazu kommen konnte, dass viele Renten zur Finanzierung einer menschenwürdigen Versorgung pflegebedürftiger Senioren zu niedrig sind!


Fragen Sie, wie es dazu kommen konnte, dass eben jene, die diese wichtige Aufgabe übernehmen, einzig als Kostenfaktor betrachtet werden!

Fragen Sie, wie eine Gesellschaft Jahrzehnte lang bei den Themen Krankheit, Pflege im Alter und Tod einfach weg sehen konnte!

Fragen Sie, warum jeder gut versorgt, aber niemand dafür bezahlen möchte!

Für die Zukunft gebe ich ihnen einen Tipp: Wenn sie etwas zum Thema Pflege schreiben wollen, vermeiden sie es so zu tun, als würde irgendwo in Deutschland die hoch professionelle, zwingend notwendige, physisch wie psychisch anstrengende Arbeit meiner Kollegen, von der Menschenleben abhängen, auch nur annähernd adäquat entlohnt.

Pflegenotstand? Da war doch was. Liegt wohl kaum an der tollen Entlohnung und den supi Arbeitsbedingungen, dass viel zu wenige einen der Pflegeberufe ergreifen bzw. zu viele bereits nach kurzer Zeit wieder aussteigen, oder?

Außerdem vermeiden Sie bitte den armseligen Versuch, Gesunde (also Einzahler in Pflege- und Krankenkasse), Pflegebedürftige und Pflegekräfte gegeneinander auszuspielen, in dem Sie irgendjemanden einfach zum Kostenfaktor degradieren, für den dann „ein Anderer“ aufzukommen hat.

Es sind Menschen, die es verdient haben menschenwürdig gepflegt zu werden.
Und es sind Menschen, die Überstunden machen und bis an ihre physischen und psychischen Grenzen gehen um eben genau das tun.


Teilweise für 1714 Euro brutto und drunter. Denken Sie mal darüber nach!



Eure schwerst mehrfach angesäuerte

@emergencymum

2 Kommentare:

@DasLebenUndBine hat gesagt…

Ich habe mit großem Interesse den sehr ausführlichen und durch viele Zahlen und Fakten belegten Artikel der Welt gelesen und auch deinen Kommentar dazu. Gerne würde ich ein paar Worte dazu schreiben:

Ich als gut betuchte Teilzeit-Arzthelferin, die nebenbei hobbymäßig in einem Pflegeheim auf 450-Euro-Basis arbeitet, da dauerndes shoppen extrem auf den Rücken geht, möchte mir auch einen schönen Heimplatz später leisten können. Dazu ist es unabdingbar, den wohl größten Kostenfaktor "Mensch" zu reduzieren in Form von Senkung der Gehälter. Ich kann mir auch sehr gut vorstellen, dass in einem bestimmt modernen, an die Bedürfnisse alter Menschen angepassten Pflegeheim in Leipzig, der unter 100 € pro Tag kostet, genug Personal vorhanden ist, damit dieses sich auch wirklich mehrere Stunden pro Tag ausschließlich mit mir beschäftigen kann. Immerhin reden wir von einem sagenhaften Brutto-Gehalt von über 1500€. Auch kann ich mir vorstellen, dass sich Jugendliche um diese Art von Beruf um die Ausbildungsplätze beinahe schon schlagen, denn wer möchte nicht, bis ca. 67 andere Menschen aus dem Bett heben, waschen, essen eingeben oder ähnliches? Oder sich Wochenenden, Nächte, Feiertage um die Ohren hauen, um fast permanenten Stress zu haben, der sich natürlich nicht auf die Bewohner überträgt?

Zu der Situation in meinem Pflegeheim.

Ich arbeite auf der "geschlossenen Station". Wir haben 25 teilweise bettlägerige Bewohner. Pro Schicht laufe ich einige hunderte von Metern, komme regelmäßig ins Schwitzen, wenn ich 70-90kg aus dem Bett heben oder auch nur umlagern soll. Wir sind teilweise nur zu zweit. Natürlich erleichtert uns die "Zeitplanung" eine ganze Menge, denn bei teilweise schwer an Demenz erkrankten Bewohnern ist es natürlich einfach, zu sagen, wie viele Minuten man für Waschen, anziehen oder ähnliches benötigt. Ich bekomme gigantische 10€ die Stunde (gut, ich bin keine gelernte Altenpflegerin), dazu Nacht-, Sonntags- und Feiertagszuschlag. Ein Supermarkt im Ort hätte das selbe Gehalt geboten. Sonn- und Feiertag geschlossen. Ich koste also jedem Bewohner die Stunde 40 Cent. Sehr unverschämt von mir.

"Vergleichsweise fair" heißt es. Wer hat bitte das Recht, zu bestimmen, welches Gehalt "fair" ist, wenn es um die Pflege von Menschen geht, die 50 Jahre oder mehr gearbeitet haben, sich eine Zukunft aufgebaut haben, für das Alter vorgesorgt haben, nur um dann zu merken: "Es reicht einfach nicht!"
Tja, vielleicht hätte ich etwas gescheites lernen sollen. So wie viele aus dem medizinischen Bereich auch. Oder vielleicht kehren die, die solche Aussagen machen, auch einmal vor der eigenen Türe. Ich lade jeden gerne ein, ein Praktikum in meinem Heim zu machen. Ich lade jeden ein, einen Monat das zu tun, was Pflegekräfte tagtäglich tun für unsere Eltern, Großeltern, für die Menschen, die uns das Beste versucht haben mit auf den Weg zu geben.

Mir wird es Angst und Bange, wenn ich daran denke, auch einmal in einem Heim zu enden. Und dennoch weiß ich, dass es immer wieder Menschen gibt, die trotz der miesen Bezahlung, trotz der Aussicht, sich das, was sie jeden Tag geben, niemals selbst leisten zu können, ALLES geben, damit es jedem Bewohner so gut wie möglich geht. Und das mit Herz, Liebe, Leidenschaft.
Und ich bin froh, ein Teil davon sein zu können.

Anonym hat gesagt…

Schichtarbeit, Wochenenden, 30 bis 50 Überstunden im Monat, ständige telefonische Erreichbarkeit, falls man mal wieder für jemanden einspringen muss und das für unter 1700 brutto? Das kommt mir bekannt vor, in meiner Branche (Elektroniker in Leiharbeit) haben wir diesen Mist auch. Und es kotzt einen nicht nur an, es macht schlicht und ergreifend krank.

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