Dienstag, 23. Juni 2015

Von Bundesjugendspielen und anderen „Kleinigkeiten“

Von Bundesjugendspielen und anderen „Kleinigkeiten“


Zunächst einmal möchte ich klarstellen, dass ich absolut nichts gegen @mama-arbeitet habe. Und natürlich muss mich niemand nach meiner Meinung fragen bevor er/sie eine Petition startet. Allerdings muss man dann auch damit klar kommen, wenn ein Anliegen von einigen weder geteilt, noch für sinnvoll oder gar zielführend erachtet wird. Und bei Frau Finke bin ich mir eigentlich sicher, dass sie mit Kontroverse umgehen kann, solang man auf Beleidigungen oder schlimmere Entgleisungen verzichtet.


Zum Thema Bundesjugendspiele


Ja bitte, schafft sie doch ab! Erspart den leichtathletisch Minderbegabten die jährliche Schmach und verderbt allen anderen den Spaß. Wenn es Euch glücklich macht. Nutzen wird es jedoch niemandem. Denn die dicke Tina wird weiterhin beim Zirkeltraining ausgelacht werden. Torben steht immer noch mit roten Kopf und kurz vorm heulen als letzter in der Turnhalle, wenn Mannschaften gewählt werden und dass Christina keinen Ball fangen kann, wird auch in Zukunft ihr Selbstbewusstsein wenig stärken.
Genauso geht es übrigens auch regelmäßig Tim dem „Mathe Looser“, denn auch wenn er nicht öffentlich eine Teilnahme Urkunde für den Mathematikunterricht überreicht bekommt, so ist überraschenderweise dennoch jedem klar, wer sich erneut die einzige 5, erkennbar am Klassenspiegel, abholen darf. Und wenn Hanna an die bevorstehende Theateraufführung denkt, wird ihr jetzt schon schlecht, weil sie ein weiteres mal den einzigen Satz, den sie mit Rücksichtnahme auf ihr nicht vorhandenes Talent zu sagen hat, vor Aufregung und Scham versemmeln wird. Alles anscheinend traumatische Erlebnisse, die es unbedingt zu verhindern gilt, oder etwa nicht?

Und jetzt sage ich Euch mal, warum es in meinen Augen die falscheste aller Lösungen ist, den Kinder diese Erfahrungen ersparen zu wollen.
Ich habe nämlich selbst einen aus dem „Team Teilnahme Urkunde“ hier zur Hause. Jemand, der mir am letzten Schultag Tränen überströmt und völlig am Boden zerstört das beste Zeugnis der Klasse in die Hand drückt, mit dem Verweis auf die grausam peinliche Urkunde, die kurz davor verliehen wurde. Ich muss ganz ehrlich sagen, dass mir dabei eine Menge durch den Kopf ging, allerdings ganz sicher nicht, unmittelbar eine Initiative ins Lebens zu rufen um diese unsäglichen Bundesjugendspiele endlich abzuschaffen.
Klar ist es immer scheiße, wenn der eigene Nachwuchs heult und ganz offensichtlich tief verletzt ist. So absurd sich das auch für einen Erwachsenen darstellt, der gerade vor Stolz platzen möchte ob dieses wahsinns Zeugnisses. Aber dafür sind wir Eltern doch da. Gefühle ernst nehmen? Klar! Ende der Welt? Nein, sicher nicht! Das dem Kind zu vermitteln, empfinde ich als meine Aufgabe in dieser Situation. „Ist ok, wenn Du traurig bist, aber hey! Guck mal, was du alles gut kannst. Du bist toll, auch ganz ohne diesen Leichtathletik Kram. Oder wolltest Du etwa professioneller Ballweitwerfer werden? Man kann halt nicht immer ganz vorne mit dabei sein. Scheiß drauf!“
Natürlich funktioniert das nicht auf Knopfdruck, zack Kind glücklich. Aber nach nun mittlerweile 5 Bundesjugendspielen kann ich Euch verraten, dass hier niemand mehr deswegen heult. Dafür sitze ich dann wahrscheinlich demnächst hier und versuche zu erklären, warum die Tatsache, dass Melina jetzt doch mit dem Lars geht, auch scheiße aber immer noch nicht das Ende der Welt ist.
Ich möchte, dass unsere Kinder lernen mit Niederlagen um zu gehen und dass sie lernen ihre Fähigkeiten realistisch einzuschätzen. Wie sonst sollen sie ihren Weg finden? Ich würde mir wünschen, dass wenn unsere Tochter (wie ich damals) mit „Na, hat das Bild etwa deine 4 jährige Schwester gemalt?“gehänselt wird, mit „Ne, dann sähe das entschieden besser aus.“ antwortet und dabei lachen kann. Das erreiche ich aber ganz sicher nicht, indem ich eine Initiative starte, dass Kinder ab sofort nur noch in Einzelkabinen Kunstunterricht erhalten um dieser grauenhaften Diskriminierung endlich ein Ende zu setzten. Das dazu.

... und andere Kleinigkeiten


Nun aber zu dem eigentlichen Grund, warum ich derart geladen bin, dass ich entgegen meiner Pläne erst mal lange nix zu bloggen, schon wieder hier sitze. Die Bundesjugendspiele scheinen, wie @mama-arbeitet bereits erkannt hat, ein sehr emotionales Thema zu sein. Ich werde das kaum leugnen können, wo ich mich ja gerade selbst dazu berufen fühlte, auch meinen Senf beizutragen. Also wird fleißig diskutiert, getweetet, gepostet, geteilt was das Zeug hält. Alles nicht weiter verwunderlich. Parallel zu diesem offensichtlich gesellschaftlich relevanten Thema, und nun kommen wir zum Punkt „andere Kleinigkeiten“, passiert aber noch etwas anderes, das ich bis dato auch für „nicht ganz so unerheblich“ gehalten hatte.
In Berlin gehen, erstmals in der deutschen Streikgeschichte, Pflegerinnen und Pfleger FÜR EUCH auf die Straße und streiken. Nicht für mehr Geld. Nicht für eine 35 Stunden Woche oder ähnlichen Luxus. Nein, sie streiken für mehr Kollegen, damit IHR also die potentiellen Patienten überhaupt anständig versorgt werden könnt. Wisst ihr, wir, also alle Pflegenden, wir haben im schlimmsten Fall eine Alternative. Nämlich die Kündigung. Wenn nichts mehr geht, dann können wir aus dem Krankenhaus, Seniorenheim, ambulanten Pflegedienst etc einfach raus marschieren und der Katastrophe somit entfliehen. Was übrigens massenweise Kolleginnen und Kollegen bereits getan haben. Ihr Patienten, ihr könnt das nicht. Weshalb wir bislang auf Streik verzichtet haben. Für mehr Geld die Patienten/Bewohner im Stich lassen? Wo wir doch eh schon dauerhaft unterbesetzt sind? Nein, da haben die meisten meiner Kollegen Skrupel. Schließlich kann die bettlägerige alte Dame am wenigsten dafür, dass wir immer mehr Stellen gestrichen bekommen und somit hoffnungslos überlastet sind. Die zahlreichen (wie ich finde bescheuerten) Tweets auf Twitter haben ja auch gezeigt, dass Ihr das super von uns fandet. „Die doofe GDL streikt, danke an die Pflegekräfte, dass ihr das nicht tut!“ Dummerweise hat dieses fürsorgliche Nicht-streiken mittlerweile dazu geführt, dass nicht nur wir uns kaputt schuften, sondern Ihr trotzdem unterversorgt seid. Und wenn dann erst mal jemand verblutet ist, weil die Nachtschwester allein mit 40 Patienten überhaupt keine Chance hatte, das rechtzeitig zu bemerken, dann, ja dann steht sogar das Pflegepersonal auf. Erst wurde für mehr Personal gebettelt, dann reihenweise Überlastungsanzeigen geschrieben und jetzt ist es in Berlin in der Charite endlich soweit, dass zum letzten Mittel vor der Kündigung gegriffen wird, nämlich zum Streik. Für EURE Gesundheit! Damit DU nicht an einem banalen Routineeingriff versterben musst, bloß weil niemand regelmäßig Deinen Zustand kontrollieren konnte. Und in ganz Deutschland beobachten Pflegekräfte diese Entwicklung gespannt und hoffen darauf, dass jetzt endlich begriffen wird, wie nötig Veränderungen sind und Bewegung in die Sache kommt. Druck auf die Charite, Druck auf die Regierung. Berichte über die Pflege. Empörung über derart katastrophale Zustände in deutschen Einrichtungen. Sie sitzen vorm Fernseher oder schauen im Internet nach wann endlich die „gesunde“ Öffentlichkeit von all dem erfährt. Und was kommt? NICHTS!
Wenige Sekunden in der Tagesschau gestern und 2 Artikel im Tagesspiegel. Darüber hinaus? NICHTS!
Dafür, (und nein, da kann Frau Finke überhaupt nichts für und das ist auch nicht im geringsten ihr Problem) bekomme ich das Thema Bundesjugendspiele von allen Seiten in meine TL. Angefangen mit @sternde und als es sogar die @tagesschau raus gehauen hat, ist mir endgültig der Kragen geplatzt. Jetzt ist der Punkt erreicht, an dem ich anfange, das persönlich zu nehmen. Die Pflege ist am Boden. Sie kann nicht mehr. Aber anstatt wegzulaufen, stellen sich die Mitarbeiter der Charite auf die Straße und schreien nach Hilfe. Um EUCH helfen zu können. Damit EUCH nichts schlimmeres passiert als ein Krankenhausaufenthalt. Und was macht ihr? Ihr diskutiert über die Bundesjugendspiele. Danke für nichts! Dann habt ihr es auch nicht besser verdient. Ich bin raus.

Oder liebe Fans der Bundesjugenspieldebatte, Ihr setzt Euch jetzt auch für mal uns ein. Wimmernde Kinder, die in der Ecke sitzen, weil sie nicht die Leistung erbringen können, die verlangt wird, tun Euch leid? Was ist dann mit uns Pflegekräften? Wir bekommen jeden Tag eine beschissene Teilnahme Urkunde. „Notwendige Leistungen konnten leider nicht erbracht werden, weil ihr einfach nicht genug seid. Aber hey, immerhin ward ihr da!“
Wie viele Pflegekräfte bleiben da wohl auf der Strecke? Ist es womöglich auch ein traumatisches Ereignis, sich für gesundheitliche Schäden oder gar den Tod eines Patienten verantwortlich zu fühlen? Ok, eine Petition zur Abschaffung der Pflege ist hier wohl leider weder zielführend noch möglich. Aber wie wäre es zum Beispiel mit einer Petition für die Einführung eines bundesweiten Pflegeschlüssels um diesem Leid auf beiden Seiten des Pflegebettes endlich ein Ende zu setzten?

Eure @emergencymum

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